Von der Schöpfung leben lernen – Die Philosophie des Yoga mitten im Leben

Wie alle Philosophen stellten sich auch die ersten Yogis ganz einfache Fragen: Wie will ich leben? Wie werde ich glücklich? Worin besteht der Sinn meines Lebens?Schaffe ich es, mich bedingungs- und erwartungslos einzulassen und anzunehmen, dass sich alles in jedem Augenblick ändert? Lade ich das Pulsierende, das Frische, das Lebendige und das Staunenkönnen immer wieder von neuem ein?

Vielleicht kann die Schöpfung dazu Lehrmeisterin sein:

Von der Schöpfung leben lernen

(an der Fassade einer alten Kirche in Brixen, Südtirol)

Von der Sonne lernen zu wärmen.
Von den Wolken lernen leicht zu schweben.
Vom Wind lernen, Anstösse zu geben.
Von den Vögeln lernen, Höhe zu gewinnen.
Von den Bäumen lernen, standhaft zu sein.
Von den Blumen das Leuchten zu lernen.
Von den Steinen das Bleiben lernen.
Von den Büschen im Frühling Erneuerung lernen.
Von den Blättern im Herbst das Fallenlassen lernen.
Vom Sturm die Leidenschaft lernen.
Vom Regen lernen, sich zu verströmen.
Von der Erde lernen, mütterlich zu sein.
Vom Mond lernen, sich zu verändern.
Von den Sternen lernen, einer von Vielen zu sein.
Von den Jahreszeiten lernen, dass das Leben immer von Neuem beginnt.

Immer wenn wir vollkommen achtsam sind und frei von jedem selbstbezogenen Wollen, Wünschen und Erwartungen, können wir entspannen und machen Ferien vom (Ego-)Ich. Ich vertraue mich dem Strom des Lebens an, indem ich den gegenwärtigen Augenblick ohne Bedingungen und Vorbehalte annehme.

Und genau dann kann sich unerwartet eine grosse Leichtigkeit, Klarheit und tiefer Frieden einstellen. Das Jetzt ist der Schlüssel, so wie Patanjali es im Vers I.1. ausdrückt: «atha yogānuśāsanam» – Yoga geschieht immer im Jetzt. Nur das Ausrichten auf die Gegenwart ermöglicht das Erleben des Zustands des Yoga. „Yoga“ bedeutet Einssein, Verschmelzen, in Harmonie sein.